Der mündige Kurator
„Wenn ich durch den Instagram-Feed scrolle, werd‘ ich nur depressiv,“ verriet mir letztens eine Bekannte. „Das erträgt doch kein Mensch, wie großartig das Leben der anderen ist, während man selber nicht klarkommt…“ Wie meiner Bekannten scheint es vielen Menschen zu gehen. Während sich täglich frischberufene Instagramer auf die Filter stürzen, die auch aus dem miesesten Handyfoto ein Stückchen Pseudo-Kunst machen, verweigern sich andere zunehmend der Bilderflut oder scrollen mit wachsendem Wiederwillen durch den Feed.
Aber warum? Wir sind es doch gewohnt, dass sich das Leben nach uns richtet, dass alles – also wirklich alles, vom Deo bis zur Microsoft-Oberfläche – personalisiert wird. Und beim Social-Media-Feed soll das dann plötzlich aufhören und wir der unbequemen, ungewollten Bilderflut ausgesetzt sein?! Das ist doch Quatsch! Wollen wir Kim Kardashian nicht in dem x-ten Nobelhotel Duckfaces machen sehen, können wir entfolgen. Erinnern uns die Fitnessstudio-Bilder des bildhübschen Ex-Kommilitonen an die eigenen gescheiterten Diätversuche, sollten wir sie entfolgen. Erfüllen uns die Bilder der Weltreise der Kollegin mit Neid, dann raus mit ihr aus unserem Feed. Niemand ist gezwungen, sich das anzuschauen. Hat man es nicht gesehen, geht es einem vielleicht sogar besser.
Die psychologische Dimension ist real. Bei meinen Recherchen fand ich unzählige Artikel über die gefühlten und realen Auswirkungen von Social Media auf die Psyche von Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen. Wer Belege wünscht folgt diesen Links:
- Psychology Today, “Just innocent Instagram” / “Instagram and the development of social skills”
- Business Insider “Psychology of why Instagram is addictive”
- Wired “Was verraten Instagram Posts über unsere Psyche”
- Time „Why Instagram Is the Worst Social Media for Mental Health“
Und das sind nur die Seite 1 Ergebnisse.
Mittlerweile ist eine ganze Industrie um Instagram entstanden mit Protagonisten (den sogenannten Influencern), Museen und eigenen Apartments. Die in ihrer Gesamtheit nichts anderes tun, als uns vorzuspielen wie großartig, nachahmenswert und wunderbar ihr Leben ist. Wen das deprimiert, ist nicht alleine. Doch sein Leidensdruck ist therapierbar.
Laut Duden ist der Kurator ein (österreichische Rechtssprache, sonst veraltet) Vormund, der Treuhänder einer Stiftung o. Ä., ein Beamter an einer Universität, der das Vermögen verwaltet und Rechtsgeschäfte wahrnimmt, oder bekannter der (wissenschaftliche) Leiter eines Museums, einer zoologischen Sammlung, einer Ausstellung usw. So wie der Kurator Herr der Lage ist, können wir das als mündige Instagrammer auch werden. Niemand ist den Influencern und ihrem fantastischen Leben ausgeliefert. Wenn es uns mehr überfordert als animiert, können wir sie einfach entfolgen. Sie mit Mißachtung strafen und uns ihrem Einfluss entziehen.
Die vielbeschworenen Echokammern, die durch Algorithmen befeuert und vielfach verteufelt werden, haben schließlich auch etwas Gutes: Wir können bestimmen, was wir sehen, was wir uns zumuten und was uns guttut. Warum überlassen wir anderen die Hoheit über unseren Seelenfrieden? Folgen wir doch lieber den lustigen Leuten, die sich selber nicht ernstnehmen wie Celest Barber oder folgen wir Bodyposipanda, die für Bodypositivity einsteht, oder den zahlreichen Illustratoren, Grafikern und Installationskünstlern, die mit ihrem Blick auf die Welt unsere auch etwas größer werden lassen – ohne moralischen Zeigefinger oder psychischem Unbehagen. Hier mal ein paar persönliche Empfehlungen:
- Little coffee stories https://www.instagram.com/cuordicarciofo/
- Miniatur Leben https://www.instagram.com/tanaka_tatsuya/
- Mitgehört und illustriert https://www.instagram.com/love.kram/
- Pantoneprojekt https://www.instagram.com/tinypmsmatch/
- Synesthesieprojekt https://www.instagram.com/5ftinf/
Meiner Meinung nach brauchen wir keine Warnhinweise, dass es sich um Werbung handelt, und auch kein Label, dass hier ein Photoshopfilter eingesetzt wurde, sondern eine grundlegende Medienkompetenz, die uns nach Jahren des Bombardements auch beigebracht hat Werbung von Information zu trennen, umzuschalten, wenn der Werbeblock kommt oder gleich Netflix anzumachen. Die Zeiten von „das muss man doch gesehen haben“ in der Bürokaffeeküche oder FOMO (Fear of missing out) sind doch eigentlich* in einer pluralistischen Gesellschaft, wo alles on Demand/personalisiert und individualisiert ist, vorbei. Machen wir uns die Vereinzelung, die Echokammern und die Unzahl an Angeboten zu nutzen und bestimmen wir selbst, was wir sehen und was uns dient.
Das einzige, was uns alle beunruhigen sollte, ist, dass ich zwar unzählige Quellen zum Thema Echokammern, Instagram-Neid und Influencermacht gefunden habe, aber keinen Artikel zum Thema „Entfolge doch einfach“. Dafür begegneten mir unzählige Rants von Aussteigern und Verweigerern, die Altersgrenzen, Labels und Warnhinweise durch staatliche Instanzen fordern, wenn sie nicht gleich die „muss man verbieten“-Keule rausholten.
Wenn wir so neuen Techniken begegnen, werden wir ein Problem bekommen. Da halte ich es doch lieber mit Kant, der zwar keine Ahnung vom Social Media hatte, aber herzlich dafür plädierte, nicht andere für sich denken zu lassen, sondern das selbst als mündiger Mensch zu übernehmen. In diesem Sinne: Werde zum Kurator deines Instagram-Feeds!
*eigentlich: Weil man davon ausgehen kann, dass FOMO trotz aller Pluralität und Individualität oder gerade deswegen eine reale Angst ist, die Menschen umtreibt.
**Wer mehr über das Buch im Titelbild erfahren möchte, klickt hier.